Am Rande der Katastrophe: Europa ohne Hegemonie, zwischen Fragilität und Illusionen

01.10.2025

Europa erlebt eine historische Phase äußerster Fragilität, geprägt von wirtschaftlichem Niedergang, politischen Spaltungen und wachsender strategischer Isolation. Die Führungsschicht scheint jedoch die Realität zu ignorieren: Statt eine Entspannungspolitik zu verfolgen, beharrt sie auf einem Kurs der Provokation und Herausforderung, der das Risiko einer Katastrophe in sich birgt. Es genügt ein militärischer Zwischenfall, ein Rechenfehler, und der gesamte Kontinent könnte in einen umfassenden Konflikt mit der asiatischen Achse hineingezogen werden, einem Block mit über drei Milliarden Menschen, einer unvergleichlichen industriellen Produktionskapazität und einer aufstrebenden Wirtschaft. Europa hingegen wirkt müde und demografisch im Niedergang und kann nicht einmal mehr wie im Kalten Krieg auf den automatischen Schutz der Vereinigten Staaten zählen.

Genau das ist der zentrale Punkt: Washington hat nicht mehr das gleiche Interesse, Europa zu verteidigen. Offizielle Dokumente der National Security Strategy und der National Defense Strategy zeigen klar, dass sich die amerikanischen Prioritäten in den Indo-Pazifik verlagert haben, wobei China der wichtigste strategische Gegner ist. Auch der European Council on Foreign Relations hat in einem bedeutenden Bericht mit dem Titel Defending Europe with Less America betont, dass die USA ihr direktes Engagement auf dem europäischen Kontinent schrittweise reduzieren, was bedeutet, dass die europäischen Länder selbst einen größeren Anteil an militärischer Verantwortung übernehmen müssen. Es ist ein Paradigmenwechsel, den viele Führungspersönlichkeiten wie der Brite Keir Starmer zu ignorieren scheinen, indem sie lieber glauben, eine härtere Gangart und Durchsetzungsfähigkeit würden ihnen im Bedarfsfall automatisch amerikanische Unterstützung sichern. Doch das ist eine Illusion. Die USA greifen nur dort ein, wo sie ein konkretes Interesse sehen, und heute ist Europa in ihren strategischen Überlegungen immer weniger zentral.

Diese Marginalisierung wird durch wirtschaftliche und technologische Daten untermauert. 2022 meldete China etwa 40.000 Patente im Bereich Künstliche Intelligenz an, während die USA etwa 9.000 registrierten. Europa blieb im gleichen Zeitraum weitgehend marginal und war nicht in der Lage, Innovationen in vergleichbarem Umfang zu generieren. 2024 haben US-Institute 40 „bemerkenswerte“ KI-Modelle entwickelt, China 15, Europa hingegen nur 3 (hai.stanford.edu, 2025). Nach Angaben der World Intellectual Property Organization hält China inzwischen rund 70 % der weltweiten Anmeldungen von KI-Patenten, die USA etwa 14 %, und Europa bleibt bei etwa 13 % stehen. Ein von Sciences Po 2024 erstellter Bericht, European Sovereignty in Artificial Intelligence, schätzt, dass die EU nur ein Fünftel der Patente pro Kopf im Vergleich zu den USA und nur ein Zwölftel im Vergleich zu China produziert. Diese Zahlen sind nicht nur technische Statistiken: Sie zeigen deutlich, dass die technologische Zukunft bereits vorgezeichnet ist – und dass Europa nicht zu den Hauptakteuren gehört.

Hinzu kommt ein noch besorgniserregenderer Befund: Die Effizienz der europäischen Forschung liegt bei schnell wachsenden Technologiebereichen unter dem Weltdurchschnitt. Eine Studie von Alonso Rodriguez-Navarro und Brito („Technological research in the EU is less efficient than the world average“, arXiv, 2018) hat gezeigt, dass die europäische wissenschaftliche Produktion in Bereichen wie KI und angewandten Wissenschaften weniger in der Lage ist, industrielle Innovationen zu generieren als die der USA und Chinas. Daraus ergibt sich eine Lücke, die nicht einfach durch höhere Investitionen geschlossen werden kann, da es sich strukturell um die Fähigkeit handelt, Forschung in bahnbrechende technologische Anwendungen umzusetzen.

Europas Grenzen zeigen sich auch in der Wirtschaftspolitik. Laut einer Analyse der Deutschen Bank aus dem Jahr 2025 wurde von 383 Empfehlungen zur Steigerung der Innovation nur 11–12% vollständig und weniger als ein Drittel teilweise umgesetzt. Während Europa noch über Strategien diskutiert, setzen China und die USA konkrete Programme zur Unterstützung von Industrie und Forschung um. Es ist daher nicht überraschend, dass China im Global Innovation Index 2025 zu den zehn innovativsten Ländern zählt und Deutschland verdrängt hat (Reuters, 16. September 2025).

All dies zeigt, dass Europa keine Hegemonialmacht mehr ist. Weder industriell, noch wirtschaftlich, technologisch oder politisch. Es verfügt weder über militärische Überlegenheit noch über die diplomatische Schlagkraft, die es früher über seine Größe hinaus wirken ließ. Es hat qualifiziertes Humankapital verloren, kann seine besten Forscher und Ingenieure nicht halten und ist in nahezu allen großen politischen Fragen – von Energie bis Migration – gespalten. Zu glauben, Europa könne zu geopolitischer Zentralität zurückkehren, ist illusorisch: Die Lücke zu den USA und China ist mittlerweile unüberwindbar.

Angesichts dieses Szenarios ist die einzig gebotene Wahl nicht die der rhetorischen Härte oder Provokation. Notwendig ist vielmehr ein politischer Realismus, der die Grenzen Europas und seine neue Stellung in der Welt anerkennt. Europa muss verstehen, dass es nun die dritte Kraft im Vergleich zu den großen globalen Mächten ist und die verlorene Hegemonie nicht zurückgewinnen kann. Die Aufgabe ist nicht, davon zu träumen, verlorenes Terrain wiederzugewinnen, sondern zu retten, was zu retten ist: die eigenen kritischen Infrastrukturen zu schützen, das Humankapital zu verteidigen, das zu stärken, was von der industriellen Basis übrig ist, und bei internationalen Krisen den schmerzlosesten Weg zu wählen. Sich Illusionen hinzugeben hieße, die eigene Stärke zu überschätzen und in die Katastrophe zu laufen.

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