Am Vorabend des Eurasismus: Ein neuer Blick auf das vorrevolutionäre russische Denken

28.07.2022

Die russische Übersetzung von Marlene Laruelles Monographie Mythe aryen et rêve impérial dans la Russie du XIXème siècle [1] ist jetzt erhältlich. Die französische Forscherin ist den russischen Lesern durch ihr beeindruckendes Buch über den Eurasismus in den 1920er und 1930er Jahren [2] bekannt, von dem nun eine Art Prolog vorliegt. Leider ist das neue Buch sehr unordentlich, voller Tippfehler und Ungenauigkeiten, sogar bei den Namen. Es ist jedoch klar, dass der erfahrene Übersetzer, der kürzlich 85 Jahre alt wurde, von dem Thema fasziniert war und einige persönliche Kommentare schrieb. Wir müssen jedoch mit der Ausgabe rechnen, die wir haben. Es ist zweifellos eine Beschreibung wert, wenn man sich mit der Geschichte des russischen sozialen Denkens und der Geschichtswissenschaft vom frühen 19. bis zum frühen 20.

Eine der methodischen Schlüsselpositionen von Laruelle ist die Untersuchung des intellektuellen Raums Russlands im Verhältnis zu Deutschland und Frankreich im 19. Jahrhundert in Bezug auf die verschiedenen Phasen der Wahrnehmung des indoeuropäischen Problems, der ursprünglichen Heimat und der früheren Sprache der Indoeuropäer und der Slawen im Besonderen, der Interpretation des Begriffs 'Arier' oder 'arisch'. Im Laufe des Buches versucht der Autor, ein breites Spektrum russischer Interpretationen des 'Arianismus' aufzuzeigen, die jedoch alle auf Abscheu und Polemik gegenüber dem römisch-germanischen Verständnis des Begriffs beruhen. Die Europäer schlossen die Russen vom 'Arianismus' aus - nationale Gelehrte verteidigten vehement ihre 'arische' Identität. Die Europäer wandten sich dem Rassismus und der anthropologischen Forschung zu - russische Gelehrte lehnten jeden Hinweis auf ein rassisches Verständnis des 'Ariertums' kategorisch ab. Die duale Position Russlands zwischen Europa und Asien zwang die russischen Ideologen des 19. Jahrhunderts dazu, nach einer Formel zu suchen, die der russischen, antiwestlichen Version des 'Orientalismus' entsprach, wobei sie sich oft als Vertreter eines 'nicht-westlichen Europas' gegen den Westen oder als Vertreter des 'Iranismus' gegen den 'Kuschitismus' und den Turanismus betrachteten. Dies sind Laruelles Schlussfolgerungen, die auf einer Studie von Hunderten von Werken russischer Historiker und Publizisten beruhen (auch wenn man bei weiterer Recherche vielleicht einzelne Beispiele finden könnte, die nicht in dieses Muster passen).

Das voluminöse Buch ist mit Hunderten von Namen, Nachnamen und Werktiteln gefüllt. Die Autorin hat es nicht geschafft, sie zu sortieren: Sie kehrt oft zu denselben Namen zurück und wiederholt dieselben Thesen. Besonderes Augenmerk legt die Monographie jedoch auf die weltgeschichtliche Konzeption von Alexei Chomjakow, die asiatischen Lehren von Esper Uchtomski und zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf den Turkestan Archaeology Lovers' Circle. Offenbar hält Laruelle diese drei Beispiele für die aussagekräftigsten und gruppiert alle anderen nach dem Prinzip des Vergleichs mit ihnen. Das zweite Kapitel, das dem Vergleich der verschiedenen Meinungen im Russland des 19. Jahrhunderts über die Heimat der Wikinger (Skandinavien, Litauen, das slawische Baltikum, das Asowsche Meer, die Schwarzmeerküste...) und die angestammte Heimat der Slawen (Skythien, Sarmatien, Sibirien, Zentralasien, Krim, Rom, Griechenland, Troja...) gewidmet ist - Meinungen, die, wieder einmal, eher wunderbar sind. In der erbitterten Rivalität zwischen ihnen kristallisierte sich jedoch allmählich eine wirklich wissenschaftliche Slawistik einerseits und eine seriöse russische Historiographie andererseits heraus. Ein Nebenzweig dieser Bemühungen war unter anderem die fantastische ukrainische Geschichtsschreibung, von Mykhailo Hrushevsky bis Agafangel Krymsky. Russische Historiker wie Evers, Moroshkin, Venelin, Gedeonov, Zabelin und Ilovajsky versuchten, die Wurzeln der russischen und slawischen Identität bei den Baktrern oder am Schwarzen Meer oder bei den Italikern und manchmal sogar bei den Hunnen und den proto-bulgarischen Türken und Chasaren zu finden. Sie bildeten die "Suppe", in der ein wahrhaft eurasisches Verständnis der russischen Identität zu Beginn des 20.  Und Laruelle glaubt, dass der Eurasianismus in gewisser Weise die Entelechie des russischen Denkens ist, auf die sich die Geister des vergangenen Jahrhunderts zubewegt hatten.

Das dritte und vierte Kapitel sind dem 'Asiatismus' im russischen Denken gewidmet. Darin untersucht Laruelle systematisch den Wandel in der Wahrnehmung Indiens und des Sanskrits von der Romantisierung und Mythologisierung hin zur Gelehrsamkeit, das Aufkommen des russischen wissenschaftlichen Iranismus und die Erforschung der altslawischen Parallelen in Epik und Kultur (Vsevolod Miller / im Bild). Auch der Theosophie von Blavatsky und Roerich, Wladimir und Wsewolod Solowjow, Leo Tolstoi und anderen wird Aufmerksamkeit geschenkt. Neben den russischen Konservativen gab es auch einige Narodniki und Liberale in Laruelles Umfeld, die die 'iranischen' und 'arischen' Mythen des Russentums aufgriffen und sie in den 'demokratischen' Farben der Utopie der Gleichheit und Brüderlichkeit der Völker der Großen Steppe ausmalten (Sergej Juschakow, Michail Venjukow). Natürlich konnte der Autor diejenigen nicht ignorieren, die man heute als populäre Historiker oder einfach als 'Spinner' bezeichnen würde, nämlich den Kosmologen Nikolai Fjodorow, der davon träumte, im Pamir die Leiche eines arischen Vorfahren zu finden, und den Gründer der Universität Tomsk, Wassili Florinskij, der fanatisch nach Slawen in den Skythen, Sarmaten und Sakas des alten Sibiriens und des Altai suchte.

Es überrascht nicht, dass sich der Suchvektor dann auf die Ideen der russischen Mission zur Eroberung Zentralasiens und die Suche unter den turko-mongolischen Schichten des Turan nach Spuren der alten turanischen, iranischen oder 'tocharischen' Kultur verlagerte. Hier traten nicht nur Denker, sondern auch Verwalter, Politiker und Fachleute wie Nikolay Przhevalsky, Agvan Dorzhiev, Pyotr Badmaev, Esper Ukhtomsky und Archäologen aus Turkestan in Aktion. Zusammen formten sie die dezidiert 'eurasische' und 'orientalische' Weltsicht von Zar Nikolaus II. und bestimmten den asiatischen Vektor der russischen Geopolitik an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, mit glühenden Träumen und esoterischen Visionen von Tibet, der Mandschurei, dem Pamir und darüber hinaus.
Auf diese Weise wird uns eine große historische Leinwand präsentiert, die reich an Fakten und Beispielen ist. Mit einem angemessenen Maß an Konzeptualisierung und theoretischer Reflexion der in dem Buch zitierten Fälle können wir unser Verständnis davon, wie das russische Denken des 19. Jahrhunderts sich selbst suchte und fand und wie sich der verborgene russische Logos seinen Weg bahnte, erheblich erweitern. Im Geiste der Noomachia-Methodologie [3; 4; 5; 6] [Anmerkung der Redaktion: Die 'Methodologie' ist nicht so sehr die der Noomachia, die der 'Kampf des Nous' ist, sondern die der Noologie, die von Dugin kodifiziert wurde], können wir unsere Perspektive erweitern und die von Laruelle untersuchten Konzepte neu bewerten und ihren Platz in der Entwicklung des russischen Selbstbewusstseins klären.

Wie wir bereits aus Laruelles vorherigem Buch über den Eurasismus wissen, kann man eine besondere Tendenz zur Apologetik der russischen Geopolitik nicht vermuten. Aber man kann sie auch nicht der Voreingenommenheit bezichtigen. Noch wertvoller sind die abschließenden Schlussfolgerungen von Laruelles Monographie über den verschlungenen Weg der Idee des 'Ariertums' in Russland von 1810 bis 1917. Es läuft darauf hinaus, dass das Konzept des 'Ariertums' in Russland in krassem Gegensatz zu dem des Westens stand. Sie war frei von Rassismus und Antisemitismus (auch wenn sie manchmal in "Turanophobie" ausartete) und basierte auf dem unveränderlichen Kult des Reiches und seiner großen Mission in Zentralasien (das zusammen mit der Großen Steppe meist als die angestammte Heimat der Arier oder zumindest der Slawen angesehen wurde). Trotz der Divergenzen zwischen den russischen Denkern, die Slawen und Varangianer an ganz unterschiedlichen Orten suchten und den Iran, Indien, Tibet, die Deutschen und die Griechen-Römer bevorzugten, waren sie alle Glieder derselben Kette, Teilnehmer an derselben säkularen Diskussion, die sich regelmäßig aufeinander bezogen.
Der Anstoß für diese Entwicklung des 'arischen Mythos' in Russland (der zu Beginn des 20. Jahrhunderts immer mehr die Form von 'Skythen' annahm) war die ständige Bedrohung durch den westlichen Diskurs, der Russland als Asien wahrnahm, es diskreditierte und so Russland zwang, sich in seinem eigenen gegenseitigen Mythos von Asien zu definieren. Auf die eine oder andere Weise hat das russische Denken in hundert Jahren einen weiten Weg zurückgelegt und ist von seiner romantischen und slawophilen Wiege zu einem ganzheitlicheren 'Aryophilismus' (N. P. Peterson), 'Skythentum' (A. A. Blok) oder 'Asiatentum' (A. A. Blok) gereift oder "Asiatismus" (E. E. Ukhtomsky), zur Wahrnehmung Russlands als "mittlere Welt des asiatisch-europäischen Kontinents" (V. I. Lamansky) und als Mitglied der "Großen Östlichen Union" (K. N. Leontiev). Es fehlte nur noch ein Schritt, um diesen Trend zu vervollständigen. In den Jahren 1920-1921 führten Nikolai Trubezkoj und Pjotr Sawizkij das russische Denken in Richtung der ersehnten eurasischen Weite.

Literatur

Laruelle M. Der arische Mythos und der imperiale Traum im Russland des 19. Jahrhunderts. M.: Totenburg, 2022.

Fussnoten:

1) Laruelle M. Die Ideologie des russischen Eurasianismus, oder Gedanken über die Größe des Imperiums. M.: Natalis, 2004.

2) Dugin A. G. Noomachia: Kriege des Geistes. Der Logos von Turan: Die indoeuropäische Ideologie der Vertikalität. Moskau: Akademisches Projekt, 2017.

3) Dugin A. G. Noomachia: Kriege des Geistes. Russische Logos I. Das Reich der Erde. Die Struktur der russischen Identität. Moskau: Akademisches Projekt, 2019.

4) Dugin A. G. Noomachia: Kriege des Geistes. Russische Logos II. Russischer Historiker. Das Volk und der Staat auf der Suche nach einem Thema. Moskau: Akademisches Projekt, 2019.

5) Dugin A. G. Nooma Noomachia khiya: Kriege des Geistes. Russische Logos III. Bilder des russischen Denkens. Der Sonnenzar, das Glühen der Sophia und Russland im Untergrund. Moskau: Akademisches Projekt, 2020.

Übersetzung von Robert Steuckers